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Wiederbelebung der Kronzeugenregelung? EU Kommission veröffentlicht neue Handreichung

Am 24. Oktober 2022 hat die Europäische Kommission („Kommission“) eine neue Handreichung veröffentlicht, die ihre Kronzeugenregelung für Kartellverfahren ergänzt. Das Dokument ist im FAQ-Format („Frequently Asked Questions“) gehalten und lässt die eigentliche Kronzeugenregelung unverändert, soll aber durch konkrete Antworten auf praktische Probleme die Transparenz, Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit des Verfahrens erhöhen. Damit will die Kommission Kronzeugenanträge erleichtern – und der zuletzt im Sinkflug befindlichen Zahl solcher „Selbstanzeigen“ neuen Auftrieb geben. Wir fassen für Sie die wesentlichen Inhalte zusammen und ordnen die Entwicklungen ein.

Hintergrund

Die Kronzeugenregelung aus dem Jahr 2006 gibt Unternehmen die Möglichkeit, auf vertraulicher Basis ihre Beteiligung an einem Kartell offenzulegen und bei einem entsprechenden Bußgeldverfahren mit der Kommission zusammenzuarbeiten. Durch einen erfolgreichen Kronzeugenantrag können Unternehmen die oftmals äußerst hohen Kartellgeldbußen entweder ganz vermeiden oder sie zumindest erheblich reduzieren.

Mit der Zunahme der privaten Kartellrechtsdurchsetzung in Europa („Private Enforcement“) sind die Kronzeugenanträge aber sowohl in Brüssel als auch in den EU-Mitgliedstaaten deutlich zurückgegangen; so erhielt die Kommission im Jahr 2014 noch 46 solcher Anträge; im Jahr 2021 waren es nur noch 6. Denn auch wenn ein Kronzeuge durch seine Zusammenarbeit mit der Kommission ein Bußgeld vollständig vermeiden kann, so treffen ihn die Zahlungsrisiken aus Kartellschadensersatzverfahren regelmäßig mit voller Wucht. Das durch den Kronzeugenantrag einmal bekannt gewordene Kartell ruft spätestens nach der abschließenden behördlichen Entscheidung zahlreiche (möglicherweise) Geschädigte auf den Plan – und deren Forderungen können durchaus ein Vielfaches dessen erreichen, was das Unternehmen durch seine Selbstanzeige an Bußgeldern „eingespart“ hat.

Dies hat sich in den letzten Jahren auch in einem erheblichen Rückgang der Kartellverfahren niedergeschlagen. Bislang nämlich waren Kronzeugenanträge das wesentliche Informationsmittel der Behörden, um mögliche Kartellfälle aufzuspüren und näher zu ergründen. Zur Einordnung: Seit dem Jahr 2005 hat die Kommission insgesamt 104 Kartellbeschlüsse erlassen. 54 davon wurden durch die Kronzeugenregelung aus dem Jahr 2006 ausgelöst. Es basiert also mehr als die Hälfte aller EU-Kartellverfahren der letzten 16 Jahre auf einem Kronzeugenantrag. Dementsprechend gilt auch umgekehrt der Zusammenhang: Je weniger Kronzeugenanträge, desto weniger Kartellverfahren – und desto weniger Bußgelder für die Staatskasse.

Zur Zeit wird auf vielen Ebenen über umfassendere gesetzliche Privilegien für Kronzeugen debattiert, um diese – wie die Kommission es nennt – „komplexere“ Situation zu adressieren und Kronzeugen zumindest teilweise auch von Schadensersatzrisiken abzuschirmen. Vorerst aber versucht die Kommission, die Attraktivität des Kronzeugenprogramms auf anderem Wege zu erhöhen. In der Tat ist – unabhängig von der Schadensersatzproblematik – ein hohes Maß an Rechtssicherheit erforderlich, um das Kronzeugenprogramm attraktiv zu gestalten; Unternehmen müssen in voller Kenntnis der Sachlage entscheiden können, ob ein Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung die gewünschten Vorteile bringen kann. Daher ergänzen die (bislang nur in englischer Sprache verfügbaren) FAQ die Kronzeugenregelung hinsichtlich einiger wichtiger praktischer Punkte, um die Transparenz und Berechenbarkeit des Verfahrens zu erhöhen.

Die wichtigsten Punkte der FAQ

Die FAQ enthalten folgende Kernpunkte:

  • Es wird definiert, was als „geheimes Kartell“ und damit als „kronzeugenwürdiger“ Kartellrechtsverstoß angesehen wird. Belohnt werden soll die Kooperation bei Kartellen, die zumindest hinsichtlich einzelner Elemente nur den Kartellanten, nicht aber Kunden, Lieferanten oder der breiteren Öffentlichkeit bekannt waren. Gleichzeitig werden Beispiele für „less traditional cartels“ gegeben, also für „kronzeugenwürdige“ Vorgänge, die über die „klassischen“ Kartellverstöße wie Preisvereinbarungen und Kundenzuteilungen hinausgehen (wie z.B. Nachfragekartelle oder der Versuch, Benchmarks oder andere Preisbildungsfaktoren zu beeinflussen). Insoweit verweist die Kommission auf einige konkrete Fälle, die sie in den letzten Jahren mit Geldbußen abgeschlossen hat.

  • Es wird ein Überblick über die Vorteile eines Kronzeugenantrags sowie die Voraussetzungen für einen entsprechenden Bußgelderlass oder eine Bußgeldermäßigung gegeben. Dabei wird auch skizziert, welches Verhalten, welcher Grad an Zusammenarbeit und welche Art und welcher Umfang von Informationen erforderlich sind, damit ein Antrag erfolgreich ist. Nach wie vor ist es so, dass nur das erste Unternehmen, das relevante Informationen über ein geheimes Kartell liefert, einen vollständigen Erlass der Geldbuße erhalten kann.

Die FAQ gehen dabei auch auf die Voraussetzungen ein, unter denen die Kommission eine vorläufige Zusage der Behandlung als Kronzeuge wieder zurücknehmen kann und erläutern, dass nachfolgende Antragsteller in diesem Fall nicht in privilegierte Positionen nachrücken (insbesondere der zweite Antragsteller nicht in die Position des ursprünglichen Kronzeugen nachrücken kann). Zugleich betont die Behörde, dass dies in der Vergangenheit praktisch nie vorgekommen sei und die Schwelle für eine spätere Versagung des Kronzeugenstatus hoch liege.

  • Außerdem sind Informationen zu der Frage enthalten, wie die Kommission kontaktiert werden kann, um einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung zu stellen. Dabei wird auch betont, dass ein möglicher Antrag auf „no names“-Basis, also anonym, mit der Kommission erörtert werden kann. Auf diese Weise sollen sich potenzielle Antragsteller vergewissern können, ob ihr Verhalten als Kartell eingestuft und seine Offenlegung gegenüber der Kommission unter die Kronzeugenregelung fallen würde. Dies soll die Rechtssicherheit erheblich erhöhen und das praktisch durchaus bedeutsame Risiko minimieren, die Kommission durch einen untauglichen Antrag auf einen möglichen Rechtsverstoß hinzuweisen, ohne gleichzeitig in den Genuss einer Besserstellung nach der Kronzeugenregelung zu kommen.

  • Alternativ können die Unternehmen dafür optieren, ihre eigene sowie die Identität der anderen Kartellanten zunächst anonym zu halten, aber im Rahmen eines sog. hypothetischen Antrags den betroffenen Wirtschaftssektor sowie die Dauer und geographische Reichweite des Kartells zu beschreiben und eine detaillierte, aussagekräftige Liste von Beweismitteln vorzulegen. Kommt die Kommission auf Basis der anschließenden Vorprüfung zum Schluss, dass ein vollständiger Bußgelderlass in Betracht käme, so muss das Unternehmen die Beweismittel offenlegen und hat die Möglichkeit, ein Bußgeld zu vermeiden.

  • Unabhängig hiervon können sich die Rechtsvertreter potenzieller Antragsteller ohne Nennung des Unternehmensnamens an die Kommission wenden, um herauszufinden, ob der Erlass der Geldbuße für ein bestimmtes Kartell grundsätzlich noch möglich ist (weil noch kein anderer Kartellant einen erfolgreichen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt hat). Dies erfordert lediglich die Offenlegung des betroffenen Produktbereichs, hat aber zur Folge, dass dann, wenn die Kommission die Möglichkeit eines Bußgelderlasses bejaht, die Pflicht besteht, einen Antrag auf Bußgelderlass zu stellen bzw. zumindest einen sog. Marker hierfür zu setzen.

Ein Marker sichert einem Unternehmen seine Position in der „Warteschlange“ für die Anwendung der Kronzeugenregelung und verschafft ihm Zeit, alle relevanten Informationen und Beweise zu sichten und zusammenzustellen, die für einen vollständigen Antrag auf Kronzeugenbehandlung erforderlich sind. Nach Beantragung des Markers ist das Unternehmen verpflichtet, innerhalb einer bestimmten Frist einen vollständigen Antrag auf Erlass oder Ermäßigung der Geldbuße zu stellen.

  • Darüber hinaus werden die Anforderungen an Bußgelderlass und -ermäßigung sowie die Verfahrensabläufe erörtert. Hervorzuheben sind dabei die Ausführungen

    • zum sog. Leniency Officer, der als primärer Ansprechpartner für alle (potenziellen) Antragsteller dient;

    • zur Kommunikation zwischen Kommission und Unternehmen über die Ergebnisse der Antragstellung;
    • zu den Vertraulichkeitsanforderungen in Bezug auf die Tatsache der Antragstellung und die Antragsinhalte (auch bei der internationalen Zusammenarbeit der Kartellbehörden);

    • zum e-Leniency-Verfahren (dazu näher unten);

    • zu den verschiedenen Ermäßigungsvoraussetzungen und -schwellen;

    • sowie zum Konzept des teilweisen Bußgelderlasses. Dieser wird Antragstellern gewährt, die der Kommission neue Informationen vorlegen, aus denen sich zusätzliche Fakten ergeben, die die Schwere oder Dauer der Zuwiderhandlung erhöhen. Diese Erhöhung wird dann bei der Festsetzung der Geldbuße für das Unternehmen, das diese Informationen vorgelegt hat, nicht berücksichtigt, das Bußgeld also (nur) insoweit „erlassen“. Ein teilweiser Erlass kann mit einer Ermäßigung der Geldbuße kombiniert werden.

Abschließend heben die FAQ die finanziellen Vorteile hervor, die historisch gesehen durch die Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung erzielt werden konnten. Zwischen ihrer Einführung im Jahr 2006 und Veröffentlichung der FAQ im Oktober 2022 hat die Kommission Kartellbußgelder in Höhe von insgesamt rund 15 Mrd. EUR verhängt. Ohne Kronzeugenanträge hätte dieser Wert mehr als doppelt so hoch gelegen: Antragsteller konnten bisher 10 Mrd. EUR durch Bußgelderlass und weitere 6 Mrd. EUR durch Bußgeldermäßigungen „sparen“.

What's new?

Mit den jetzt veröffentlichten FAQ lässt die Kommission das System der Kronzeugenregelung weitgehend unverändert, möchte aber die Antragstellung durch mehr Transparenz, Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit für potenzielle Kronzeugen erleichtern. Im Interesse des niedrigschwelligeren Zugangs zum Antragsverfahren gibt es daher folgende Neuerungen:

  • Die FAQ enthalten Beispiele für atypische Kartelle sowie einige exemplarische Kronzeugenfälle aus der jüngeren Fallpraxis, die zum Zeitpunkt der Kronzeugenregelung von 2006 noch nicht existierten. Dies illustriert den Anwendungsbereich der Kronzeugenregelung und kann für Unternehmen einen Anreiz schaffen, auch außerhalb reiner Preis-, Kunden- oder Marktzuteilungsvereinbarungen über die Stellung eines Kronzeugenantrags nachzudenken.

  • Die explizit genannte Möglichkeit, sich auf „no names“-Basis mit der Kommission zu den Möglichkeiten eines Antrags auszutauschen. Nicht zuletzt zu diesem Zweck wird auch die Rolle des „Leniency Officer“ geschaffen. Zur Zeit bekleiden zwei Kommissionsbeamte diese Position.

  • Nähere Erläuterungen zur 2019 eingeführten e-Leniency-Plattform und der Möglichkeit, dort Marker und Anträge digital einzureichen. Die Plattform ermöglicht es Antragstellern, ihre Erklärungen direkt online auf dem sicheren Server der Kommission einzugeben und ergänzende Dokumente hochzuladen. Die eingegebenen Informationen können nicht kopiert oder ausgedruckt werden und sind nach der Übermittlung allein der Kommission zugänglich. Durch e-Leniency entfällt insbesondere die Notwendigkeit, zur Abgabe mündlicher Erklärungen in die Räumlichkeiten der Kommission zu reisen. Zugleich wird die Software nun – auch dies ist neu – so angepasst, das weitere verfahrensbezogene Unterlagen (wie z.B. Schreiben der Kommission an die Kartellanten) versandt und Akteneinsichtsvorgänge im Zusammenhang mit dem Kronzeugenverfahren durchgeführt werden können.

  • Die Klärung des Verhältnisses zwischen Kronzeugenregelung und unionsrechtlichem Whistleblower-Schutz. Whistleblower, die Verstöße gegen das Unionsrecht, einschließlich des Kartellrechts, melden, sind gemäß der EU-Whistleblower-Richtlinie von 2019 insbesondere vor Vergeltungsmaßnahmen seitens ihrer Arbeitgeber geschützt. Die FAQ betonen, dass Whistleblower (sofern sie nicht selbst als Unternehmen im Sinne des EU-Kartellrechts gelten) nicht mit Geldbußen für Kartellrechtsverstöße rechnen müssen. Sie bedürfen daher keines über die Whistleblower-Richtlinie hinausgehenden Schutzes.

Das ist zugleich ein Fingerzeig an die Unternehmen: Diese können nur durch das Kronzeugenprogramm ihre Bußgeldrisiken minimieren, während einzelne Mitarbeitende solche Risiken nicht haben, den Schutz der Whistleblower-Richtlinie genießen und durch ihre (anonymen) Meldungen erfolgreiche Kronzeugenanträge verhindern können. Den Unternehmen soll klar sein: Wenn kartellrechtlich etwas im Argen liegt, so droht ein „Windhundrennen“ nicht nur mit anderen Kartellanten – sondern auch mit den eigenen Mitarbeitenden.

  • Konkret mit Blick auf die eingangs erwähnten Schadensersatzrisiken rufen die FAQ zudem diejenigen Schutzvorschriften für Kronzeugen ins Gedächtnis, die schon nach heutigem Stand die zivilrechtlichen Folgen von Kartellverstößen abmildern können. In Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie von 2014 gehört hierzu insbesondere der Schutz der Kronzeugenerklärungen; diese dürfen in Schadensersatzverfahren vor nationalen Gerichten innerhalb der EU nicht offengelegt werden. Zudem ist die gesamtschuldnerische Haftung von Kronzeugen, denen ein Bußgelderlass gewährt wurde, nur auf die eigenen direkten und indirekten Kunden beschränkt. Auf andere Kunden (also den gesamten denkbaren Kartellschaden) erstreckt sie sich nur dann, wenn von den anderen Kartellanten kein Schadensersatz erlangt werden kann. Schließlich wird betont, dass Unternehmen, die erfolgreich einen Antrag auf Erlass oder Ermäßigung des Bußgelds stellen, bessere Chancen darauf haben, den Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge zu vermeiden.

What's next?

Die FAQ enthalten einige willkommene Ergänzungen, die das Ziel größerer Verfahrenstransparenz und -klarheit erreichen dürften. Gleichzeitig sind sie ein wichtiger Fingerzeig, dass die Kommission – nachdem zuletzt vor allem fusionskontrollrechtliche Themen, das Vertriebskartellrecht und die Marktmacht von Technologieunternehmen im Fokus standen – auch die „alte Welt“ der Kartellbußgeldverfahren weiterhin sehr ernst nimmt. Ein weiteres Signal hierfür ist die zuletzt wieder spürbar angestiegene Zahl entsprechender Durchsuchungen in Unternehmensräumlichkeiten und Privatwohnungen; das „Corona-Tief“ scheint hier überwunden – und schon allein deshalb tun Unternehmen gut dran, ihrer Kartellrechtscompliance weiterhin größte Aufmerksamkeit zu schenken.

Ob die FAQ allein aber genügen werden, um die Kartellrechtsdurchsetzung künftig wieder durch mehr Kronzeugenanträge zu stärken, darf bezweifelt werden. Insbesondere die Möglichkeit zur anonymen Vorab-Erörterung möglicher Anträge und die Drohkulisse durch anonymes Whistleblowing dürften zwar durchaus zur Kooperation mit der Behörde motivieren. Solange aber auch Kronzeugen, die einen Kartellverstoß als erste melden und umfassend zur Sachverhaltsaufklärung beitragen, das Damoklesschwert späterer Kartellschadensersatzverfahren über sich wähnen, dürfte hier weiterhin ein stark gegenläufiger Anreiz bestehen. Unternehmen sollten sich daher nicht nur mit den Inhalten der FAQ vertraut machen, sondern vor allem auch die rechtspolitischen Entwicklungen rund um mögliche schadensersatzrechtliche Privilegierungen für Kronzeugen fest im Blick behalten, für die sich zur Zeit vor allem das Bundeskartellamt einsetzt.

 

 

 

 

Verfasst von Christian Ritz und Florian von Schreitter

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