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Der Bundestag hat am 26.09.2024 den Gesetzesentwurf zum Leitentscheidungsverfahren in leicht modifizierter Fassung angenommen,[1] nachdem der initiale Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz aus Juni vergangen Jahres – wie hier bereits beleuchtet – auf erhebliche Kritik gestoßen war.[2] Der Bundesrat hat das Gesetz nunmehr am 18.10.2024 beschlossen. Das Gesetz wird am Tag nach der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt – voraussichtlich Ende Oktober – in Kraft treten. Mit der Leitentscheidung wird nunmehr ein neues prozessrechtliches Instrument etabliert, das der effizienten und ressourcenschonenden Bewältigung von Massenverfahren dienen soll.
Massenverfahren sind durch eine Vielzahl von Klägern gekennzeichnet, die in zahlreichen Verfahren rechtlich und tatsächlich gleichgelagerte Ansprüche geltend machen.3
Neben den promintenten Fällen der massenhaft eingereichten Klagen gegen zahlreiche Automobilhersteller, münden auch (vermeintliche) Entschädigungsansprüche wegen Flugverspätungen oder unzulässiger Klauseln in Fitnessstudio-, Versicherungs- oder Bankverträgen häufig in solchen Massenverfahren.
Mit Massenverfahren geht oftmals eine erheblichen Belastung der – ohnehin chronisch überlasteten4– Zivilgerichtsbarkeit einher. Die mit den einzelnen Klagen befassten Instanzgerichte beschäftigen sich über mehrere Jahre mit unzähligen gleichgelagerten Verfahren, zumeist ohne sich bei ihrer Entscheidungsfindung an einer höchstrichterlichen Entscheidung des BGH als Leitlinie orientieren zu können. Erst nach dem vollständigen Instanzenzug der ersten Verfahren kann sich eine gefestigte und einheitliche Rechtsprechung herausbilden, die sodann (endlich) eine effiziente Aburteilung der Massenverfahren fördert.
Anlass für das hier besprochene Gesetzgebungsverfahren war, dass solche Leitentscheidungen des BGH de lege lata selbst noch in einem anhängigen Revisionsverfahren verhindert werden konnten. Ein höchstrichterliches Urteil konnte bislang nicht ergehen, wenn das betreffende Verfahren zuvor durch Rücknahme der Revision oder den Abschluss eines Vergleiches erledigt wurde – häufig aus prozesstaktischen Gründen mit dem Ziel, die Herausbildung einer (für die jeweilige Partei nachteiligen) höchstrichterlichen Rechtsprechung zu verhindern; die sogenannte „Flucht in die Revisionsrücknahme“5. Diesem Umstand soll das neue Gesetz zum Leitentscheidungsverfahren entgegenwirken und insoweit eine Entlastung der Gerichte bewirken.
Das nunmehr vom Bundestag beschlossene Gesetz führt insbesondere zu einer Ergänzung der Zivilprozessordnung (ZPO). Ausweislich der neuen Vorschrift des § 552b ZPO n. F. kann der BGH ein Revisionsverfahren durch Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen, sofern seit Zustellung der Revisionsbegründung ein Monat verstrichen ist bzw. die Berufungserwiderung vorliegt und die Revision Rechtsfragen aufwirft, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist. Das Revisionsgericht trifft sodann eine begründete Leitentscheidung im Beschlusswege, wenn das zum Leitentscheidungsverfahren bestimmte Revisionsverfahren ohne ein Urteil mit inhaltlicher Begründung endet (§ 565 ZPO n. F.). Diese Regelung zielt darauf ab, die eben beschriebene prozesstaktische Verhinderung eines revisionsgerichtlichen Urteils zu unterbinden. Eine nach diesen Vorschriften ergangene Leitentscheidung entfaltet jedoch keinerlei Bindungswirkung, weder für die (ehemaligen) Parteien des Revisionsverfahrens noch für die (mit gleichgelagerten Fällen beschäftigten) Instanzgerichte. Vielmehr soll sie den Amts- und Landgerichten eine Entscheidungsleitlinie bieten und so zur beschleunigten Herausbildung einer gefestigten Rechtsprechung zu dem Gegenstand der jeweiligen Massenverfahren beitragen.6
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens hat der Rechtsausschuss zudem die nunmehr beschlossene Fassung des § 148 ZPO n. F. modifiziert. Zukünftig können Instanzengericht nun auch ohne Zustimmung der Parteien eine Verhandlung aussetzen, wenn die Entscheidung über den jeweiligen Rechtsstreit von Rechtsfragen abhängt, die Gegenstand eines anhängigen Leitentscheidungsverfahrens sind. Hierdurch sollen etwaig von der Leitentscheidung divergierende untergerichtliche Entscheidungen vermieden werden. Die ursprünglich vorgesehene Zustimmungspflicht der Parteien stieß von vornherein auf Ablehnung, insbesondere wegen der Befürchtung, mindestens eine Partei werde aus prozesstaktischen Gründen sowieso stets einer Aussetzung widersprechen.7 Zudem beinhaltete das Zustimmungserfordernis keine substantielle Neuerung gegenüber § 251 Satz 1 ZPO, wonach ohnehin bereits das Ruhen des Verfahrens angeordnet werden kann, wenn es beide Parteien beantragen und dies wegen schwebender Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen zweckmäßig ist.8
Nach der nunmehr vom Bundestag beschlossenen Gesetzesfassung setzt eine Aussetzung des Verfahrens keine Zustimmung der Parteien, sondern lediglich ihre vorherige Anhörung voraus. Die Aussetzung hat jedoch zu unterbleiben, wenn eine Partei der Aussetzung widerspricht und gewichtige Gründe hierfür glaubhaft macht (§ 148 Abs. 4 Satz 2 ZPO n. F.) – dies können nach der gesetzgeberischen Vorstellung etwa die drohende Insolvenz oder das hohe Alter einer Partei sein.9 Zudem ist die Aussetzung in entsprechender Anwendung von § 149 Abs. 2 ZPO auf einen Zeitraum von einem Jahr zu begrenzen, sofern nicht ausnahmsweise gewichtige Gründe für die Aufrechterhaltung der Aussetzung sprechen (§ 148 Abs. 4 Satz 3 ZPO n. F.).
Der Gesetzgeber hat schon im Rahmen der Gesetzesbegründung zum ursprünglichen Gesetzesentwurf eine Prognose für die Folgen und Effekte des Leitentscheidungsgesetzes angestellt.8 So schätzte er, nach der Gesetzesänderung würden etwa 25 Leitentscheidungen pro Jahr ergehen. Weiter nahm der Gesetzgeber an, die Einführung des Leitentscheidungsverfahrens werde zu einer Einsparung von ungefähr 20 Prozent der Gerichts- und Rechtsanwaltsgebühren führen. Bei einem durchschnittlichen Streitwert von EUR 5.000,00 sei mit einer Einsparung an Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von EUR 38,3 Millionen und an Gerichtsgebühren in Höhe von EUR 19,3 Millionen pro Jahr zu rechnen.
Diese Schätzungen des Gesetzgebers wirken allerdings überraschend optimistisch, insbesondere angesichts ihres holzschnittartigen Charakters. Entsprechend äußert sich Kritik, nach der diese gesetzgeberische Prognose „jeder seriösen empirischen Grundlage entbehre“.11 Wie viel Zeit und Geld durch das neue Leitentscheidungsverfahren tatsächlich eingespart werden kann, bleibt der zukünftigen Gesetzesevaluation vorbehalten.
Grundsätzlich ist die Zielsetzung des Gesetzes zum Leitentscheidungsverfahren, die möglichst zügige Herstellung von Rechtsklarheit in Massenverfahren durch Schaffung einer einheitlichen Rechtsprechung, zu begrüßen. Ob das Leitentscheidungsverfahren in seiner nun beschlossenen Form diesen Ansprüchen genügen wird, erscheint allerdings durchaus zweifelhaft. Selbst die Regierungsfraktionen bezeichnen das Leitentscheidungsverfahren lediglich als einen „Baustein zur Bewältigung von Massenverfahren“12, was bereits darauf hindeutet, dass sie selbst offenbar nicht von einer umfassenden Lösung der anhaltenden Problematik der Massenverfahren ausgehen. Auch die BGH-Präsidentin Bettina Limperg bezeichnete das Gesetz als einen lediglich „minimalinvasiven Eingriff“.13
Die einzige tatsächlich greifbare Wirkung des neuen Leitentscheidungsverfahrens ist, dass die Parteien einen Monat nach Zustellung der Revisionsbegründung an der „Flucht in die Revisionsrücknahme“ gehindert werden. Dadurch wird im Ergebnis aber lediglich der Zeitpunkt für eine prozesstaktische Revisionsrücknahme vorverlagert.14 Denn bis zu dem genannten Zeitpunkt bleibt die Rücknahme der Revision oder ein verfahrensbeendender Vergleich weiterhin möglich, ohne dass eine Leitentscheidung ergehen kann.
Ein wesentlicher – und bisher eher unzureichend hinterfragter – Aspekt des Leitentscheidungsverfahrens ist insbesondere die Auswahl des vermeintlich „geeigneten Verfahrens“. Die Auswahl der Fälle muss mit großer Sorgfalt getroffen werden, um sicherzustellen, dass diese tatsächlich repräsentativ sind sowie die bedeutenden rechtlichen Fragen klären. Ansonsten besteht die Gefahr, dass zum Zweck der beschleunigten Herbeiführung einer Leitentscheidung eher Verfahren mit zweifelhafter Qualität und insbesondere Komplexität zur Bestimmung der künftigen Leitlinien herhalten müssen. Die Instanzgerichte sollten daher, auch aufgrund der fehlenden Bindungswirkung des Leitentscheidungsverfahrens, die spezifischen Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls stets im Auge behalten, selbst nachdem eine Leitentscheidung ergangen ist.
Außerdem greifen die Wirkungen des Leitentscheidungsverfahren zu spät. Denn ein Rechtsstreit muss zunächst den langwierigen Instanzenzug durchlaufen, bis er schließlich beim BGH anhängig wird, der sodann das Verfahren zum Leitentscheidungsverfahrens erklären kann.15 Überdies müssen erst mehrere Revisionen eines Massenverfahrens beim BGH anhängig sein, damit dieser sich sodann einen für eine Leitentscheidung geeigneten Fall heraussuchen kann.16 Solange findet keinerlei Entlastung der Instanzengerichte statt.
Die Modifizierung des ursprünglichen Gesetzesentwurfes im Rechtsausschuss ist dennoch zu begrüßen, sie verhindert zumindest einen gröberen Geburtsfehler des Leitentscheidungsverfahrens. Die Streichung des Zustimmungserfordernisses für die Aussetzung anhängiger Massenverfahren durch die Instanzengerichte bis zur Leitentscheidung stellt auch keine unzumutbare Beeinträchtigung des Rechtsschutzinteresses der betroffenen Parteien dar. Denn zum einen können die Parteien gegen die Aussetzung im Wege der sofortigen Beschwerde nach § 252 ZPO vorgehen, zum anderen ist die Aussetzung im Grundsatz zeitlich auf ein Jahr begrenzt.17
Anstelle des Leitentscheidungsverfahrens hätte es erwägenswerte Alternativen gegeben, um dem Phänomen der Massenverfahren effektiver und grundsätzlicher zu begegnen.18 Denkbar wäre insoweit etwa die Einführung eines Vorlageverfahrens, das es ermöglichen würde, dem BGH schon aus der ersten Instanz ein geeignetes Verfahren zur Vorabentscheidung vorzulegen. Eine andere Möglichkeit wäre die Ausweitung der Sprungrevision dergestalt, dass diese entgegen der aktuellen Vorschrift des § 566 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht mehr von der Einwilligung der Parteien abhinge. Als weitere Alternative käme auch die Etablierung eines Musterverfahrens in Betracht, dessen Beweisergebnisse unmittelbar in den Folgeprozessen Berücksichtigung finden könnten. Die Unionsfraktion hat in ihrem Entschließungsantrag zudem eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren auch ohne Zustimmung der Parteien und eine besondere Strukturierung und Begrenzung des anwaltlichen Vortrags in Massenverfahren in die Debatte eingebracht.19
Auch die internationale Rechtsvergleichung zeigt, dass derartige Möglichkeiten im europäischen Ausland sowie in Nordamerika bereits zur Bewältigung von Massenverfahren eingesetzt werden.20 So existieren verschiedene Formen eines Vorlageverfahrens in Frankreich, den Niederlanden und in den USA, bei denen von erster Instanz aus dem jeweils höchsten Gericht eine Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vorgelegt werden kann. Zudem hat sich in Großbritannien ein effizientes Musterverfahren in bank- und kapitalmarkrechtlichen Streitigkeiten etabliert, das in der Praxis bereits zur schnellen höchstrichterlichen Klärung derartiger Massenverfahren geführt hat.
In Deutschland selbst ist im Oktober 2023 mit der sogenannten Abhilfeklage eine weitere Form einer Verbandsklage eingeführt worden.21 Die Abhilfeklage erlaubt qualifizierten Verbraucherverbänden die Geltendmachung von Ansprüchen von mindestens 50 Verbrauchern gegen ein Unternehmen, wenn die Ansprüche auf demselben Sachverhalt beruhen und für sie die gleichen Tatsachen- und Rechtsfragen entscheidungserheblich sind. Anders als bei der Musterfeststellungsklage führt die Abhilfeklage im Erfolgsfall zur unmittelbaren Durchsetzung der Leistungsansprüche der einzelnen Verbraucher. Allerdings können Abhilfeklagen auch mit einem Vergleich enden, weshalb sie – anders als Leitentscheidungsverfahren – nicht zwingend zur Herausbildung einer gefestigten Rechtsprechung beitragen.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Leitentscheidungsverfahren zwar grundsätzlich einen sinnvollen Ansatz verfolgt, im Ergebnis jedoch fragmentarischer Natur bleibt, selbst einige Risiken beinhaltet und insbesondere ein vielfach gefordertes Gesamtkonzept zur besseren und schnelleren Bewältigung von Massenverfahren weiterhin fehlt. Allerdings sprachen die Regierungsfraktionen während der Gesetzesberatung im Rechtsausschuss auch ausdrücklich von einer noch nicht abgeschlossenen Entwicklung, die weiterer Diskussion bedürfe.22 Die Debatte um die bessere – insbesondere effektivere – gerichtliche Bewältigung von Massenverfahren wird also auch nach der Einführung des Leitentscheidungsverfahrens nicht zum Erliegen kommen.
Verfasst von Julius Fabian Stehl, LL.M. und Joscha Brischke.