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Die Sichtbarkeit von Bauelementen komplexer Erzeugnisse i.S.d. § 4 DesignG beurteilt sich sowohl aus Sicht des Endnutzers als auch aus Sicht eines externen Betrachters. Dabei muss das Bauelement nicht zu jedem Zeitpunkt der Verwendung des komplexen Erzeugnisses vollständig sichtbar bleiben. Eine Sichtbarkeit bei Handlungen, die vorgenommen werden können, bevor oder nachdem das Erzeugnis seine Hauptfunktion erfüllt hat, reicht aus. Dies entschied kürzlich der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren und erweiterte somit die Möglichkeit, Bauelemente komplexer Erzeugnisse als Design gem. § 4 DesignG schützen zu lassen.
Die Antragsgegnerin, ein internationales Handelsunternehmen, welches auf den Handel mit Fahrradprodukten spezialisiert ist, ist Inhaberin eines Designs für "Sättel für Fahrräder oder Motorräder". Zur Wiedergabe des Designs reichte die Antragsgegnerin lediglich ein Bild ein, welches die Unterseite eines Fahrradsattels darstellt.
Die Antragstellerin, ebenfalls auf den Fahrradsektor spezialisiert, reichte beim Deutschen Patent und Markenamt (DPMA) im Juli 2016 einen Antrag auf Erklärung der Nichtigkeit des Designs ein. Nach Auffassung der Antragstellerin sei der Sattel Bestandteil eines komplexen Erzeugnisses (Fahrrad, Motorrad) i.S.d. § 4 DesignG, und die Unterseite des Sattels sei bei bestimmungsgemäßer Verwendung nicht, wie grundsätzlich für einen entsprechenden Designschutz erforderlich, sichtbar.
Das DPMA wies den Nichtigkeitsantrag mit der Begründung zurück, dass die "bestimmungsgemäße Verwendung" nach § 4 und § 1 Nr. 4 DesignG auch das Ab- und Wiederaufbauen des Sattels umfasse, solange es nicht zu den in § 1 Nr. 4 DesignG genannten Bereichen Instandhaltung, Wartung oder Reparatur gehöre.
Das Bundespatentgericht (BPatG) folgte in der darauffolgenden Beschwerdeinstanz der Auffassung der Antragstellerin und erklärte das Satteldesign für nichtig. Laut BPatG bleibe die Sattelunterseite nach Einbau/Einfügung in das komplexe Erzeugnis bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung nicht sichtbar. Denn nur das Fahren sowie Auf- und Absteigen gehöre zur "bestimmungsgemäßen Verwendung" von Fahrrädern, so das BPatG.
Gegen die Entscheidung legte die Antragsgegnerin Rechtsbeschwerde beim BGH ein, der im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art 267 AEUV zunächst den EuGH anrief, um die Auslegung der Begriffe „Sichtbarkeit“ und „bestimmungsgemäße Verwendung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG (DesignRL) klären zu lassen, die § 1 Nr. 4 und § 4 DesignG umsetzt.
(EuGH, Urt. v. 16.02.2023 – C-472/21)
Zunächst weist der EuGH darauf hin, dass die Erscheinungsform gerade das entscheidende Merkmal eines Geschmacksmusters (das deutsche DesignG verwendet den Begriff „Design“) sei und die Erscheinungsform sich ausschließlich aus den sichtbaren Merkmalen ergebe. Die Sichtbarkeit sei daher wesentliche Schutzvoraussetzung.
Dabei müsse nach Auffassung des EuGH der Begriff „Sichtbarkeit“ sowohl aus Sicht des Endnutzers als auch aus Sicht eines externen Betrachters beurteilt werden. Allerdings könne die Sichtbarkeit nicht losgelöst von den Situationen der Verwendung des Erzeugnisses beurteilt werden. Daher hebe Art. 3 Abs. 3 Buchst. a DesignRL hervor, dass das in das komplexe Erzeugnis eingefügte Bauelement, um rechtlichen Musterschutz genießen zu können, „bei bestimmungsgemäßer Verwendung“ dieses Erzeugnisses sichtbar bleiben müsse. Der EuGH führt jedoch auch aus, dass das Bauelement nicht während der gesamten Zeit, in der das komplexe Erzeugnis verwendet wird, vollständig sichtbar bleiben müsse.
Zudem sei der Begriff der "bestimmungsgemäßen Verwendung" im Sinne von Art. 3 Abs. 4 DesignRL weit auszulegen und dürfe nicht mit dem engeren Begriff der "hauptsächlichen Verwendung" verwechselt werden. Die "bestimmungsgemäße Verwendung" umfasse verschiedene Handlungen, die mit der üblichen bzw. hauptsächlichen Verwendung eines Erzeugnisses zusammenhingen und die vor oder nach Erfüllung der „hauptsächlichen Verwendung“ des Erzeugnisses vorgenommen werden könnten, wie z. B. die Lagerung und der Transport des Erzeugnisses. Ausgeschlossen seien lediglich die abschließend aufgezählten Handlungen der Instandhaltung, Wartung und Reparatur. Was „üblich“ sei und eine „bestimmungsgemäße Verwendung" darstelle, müsse aus Sicht des Endnutzers beurteilt werden. Anderenfalls drohe eine Umgehung des Sichtbarkeitserfordernisses, wenn nämlich eine Verwendung auf anderen Handelsstufen (etwa durch Hersteller oder Entwickler) ebenfalls berücksichtigt würde.
Fazit
Der Fall hat große praktische Auswirkungen. Im Wesentlichen folgt der EuGH den Schlussanträgen von Generalanwalt Szpunar, der eine weite Auslegung der Begriffe "Sichtbarkeit" und "bestimmungsgemäße Verwendung" im Sinne von Art. 3 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 DesignRL befürwortete. Durch seine extensive Auslegung der Begriffe erweitert der EuGH die Möglichkeit des Designschutzes von Bauelementen komplexer Erzeugnisse erheblich. Diese müssen insbesondere nicht auf den ersten Blick sichtbar sein.
Obwohl der EuGH mehr Rechtssicherheit schafft, lässt er gleichwohl mehrere Hintertüren offen. Es wird im Einzelfall zu klären sein, ob die in Rede stehenden Handlungen solche sind, die der Endnutzer im Rahmen einer "hauptsächlichen Verwendung" eines komplexen Erzeugnisses "üblicherweise" vorzunehmen hat. Darüber hinaus ist ungeklärt, ob – wie Generalanwalt Szpunar unter Nummer 41 seiner Schlussanträge feststellt – "maintenance-related acts", also Handlungen, die unter anderem der Instandhaltung zuzuordnen sind, eine "übliche Verwendung" eines komplexen Erzeugnisses darstellen. Als solche "maintenance-related acts" nennt der Generalanwalt das Waschen und Reinigen des komplexen Erzeugnisses.
Auch die nun als nächstes anstehende Entscheidung des BGH dürfte also mit Spannung zu erwarten sein.
Verfasst von Yvonne Draheim, LL.M./Univ. Stellenbosch und Dr. Hendrik Schulze, LL.M. (Rijksuniversiteit Groningen)